Ein Widerspruch zu Werner Kläns Aufsatz „Pacta sunt servanda – über kirchliche Ordnungen und ihre Verbindlichkeit“[1] von Pastoren i.R. Hinrich Müller und Johannes Dress. Unter diesem Link ist dieser Artikel auch als PDF erhältlich.
Die Hauptaussagen von Klän in Auswahl
- Kirchliche Ordnungen (in der Regel als schrift- und bekenntnisgemäß erwiesen und aufgrund geltender Lehrentscheidung formuliert) sind als Verträge anzusehen („Pacta“) und müssen eingehalten werden („sunt servanda“).
- 1.1 Jede Veränderung von einmal aus Schrift und Bekenntnis hergeleiteten Ordnungen würde die dahinterstehende Lehrentscheidung als irrtümlich qualifizieren und aufheben und als häretisch kennzeichnen[2].
- 1.2 In der Ordination versprechen Pfarrer (neben der Verpflichtung auf die Heilige Schrift und das Bekenntnis der Kirche), die geltenden kirchlichen Ordnungen der SELK zu erfüllen und z.B. die von ihr gebilligten Agenden als verbindlich anzusehen. Das ist der „pact“. Gibt es daran Zweifel, so Klän, brechen sie ihr Versprechen.
- 1.3 Auch KirchenvorsteherInnen oder Synodale werden bei Einführungen bzw. bei Synoden auf die Heilige Schrift und das Bekenntnis der Kirche verpflichtet. Haben sie dabei in dem einen oder anderen Punkt einen inneren Gedankenvorbehalt (reservatio mentalis) oder beabsichtigen sie Änderungen kirchlicher Ordnungen, brechen sie ebenfalls ihr Versprechen.[3]
- 1.4 Abweichen – sprich sich um Änderung einer bestehenden Ordnung zu bemühen und das auch aus der Schrift zu erweisen, wird von Klän als Meineid oder Gelöbnisbruch oder eben als Vertragsbruch qualifiziert.
- In Bezug auf den 2022 herausgegebenen Atlas Frauenordination[4] zweifelt Klän an der Arbeitsweise des vom APK eingesetzten Arbeitsausschusses, an dessen Umgang mit divergenten Lehrmeinungen und kritisiert die Erstellung verschiedener „Szenarien“ als Konfliktlösungsmodell[5]. Klän spitzt zu: „Die Szenarien 4, 5, und 6 laufen allesamt auf eine Spaltung bzw. Auflösung der SELK hinaus“.[6]
Widerspruch zu Kläns Hauptgedanken in Auswahl
- Widerspruch 1: Um der korrekten Wahrnehmung des Predigtamtes willen gilt geradezu, dass auch geltende kirchliche Ordnungen verändert werden müssen, weil neue Erkenntnisse Raum greifen und weil wir als Kirche in die Zeitgenossenschaft gesellschaftlichen Wandels einbezogen sind.
- 3.1 Die von Klän beschriebene Denkweise legt Pfarrer in ihrem pastoralen Sein und Tun in vieler Hinsicht in ihrem Handeln fest auf den Vollzug und das Exekutieren von Ordnungen – ohne dass ein Abweichen erlaubt wäre.
- 3.2 Am Beispiel der Liturgie, wo Klän jedes Abweichen von der Verbindlichkeit liturgischer Formulierungen der Agende als „Wildwuchs in liturgicis“ kennzeichnet, der nicht gestattet ist[7], wird die Schwierigkeit der unter 1. genannten Denkweise deutlich.
- 3.3 Als Pfarrer habe ich beim liturgischen Vollzug nicht in erster Linie die Aufgabe, korrekte agendarische Formulierungen zu sprechen, sondern den Menschen zu dienen, ihnen nach Möglichkeit Wege zu Gott zu eröffnen. Dazu muss ich eine Sprache sprechen, die die Sprache der heutigen Menschen ist und die sie verstehen, die ihre Vorstellungsinhalte aufnimmt und ihnen nahekommt. Das ist in den als verbindlich festgelegten agendarischen Formen und Worten in vieler Hinsicht nicht gegeben. Das sollte uns nach Martin Luther und seinem Bemühen um Sprache und Verständlichkeit für die Menschen nicht aus dem Blick geraten.
- 3.4 Zugespitzt gesagt: Ordnungsmäßig korrekt zu sein kann verhindern, dass ich meinen ordinationsgemäßen Auftrag als Pfarrer angemessen ausführen kann.
- 3.5 In der Konsequenz: Weil es um die inhaltliche Einhaltung meines Ordinationsversprechens geht, das Predigtamt gewissenhaft auszuführen, muss ich u.U. Ordnungen verändern, weil sich die Anforderungen an das Predigtamt ändern. Das hat weder mit Gelöbnisbruch noch mit Meineid oder innerem Vorbehalt zu tun, wie Klän es in den Raum stellt[8].
- 3.6 Genauso wie Pfarrer sind Synodale oder KirchenvorsteherInnen an kirchliche Ordnungen gebunden[9]. Trotz dieser Bindung gilt auch bei ihnen, wenn es darum geht, Kirche oder Gemeinde zu leiten, dass Ordnungen geändert werden können, weil neue Erkenntnisse Raum greifen. Es gilt das Gleiche wie unter 3.5 ausgeführt.
- 3.7 Hätte Martin Luther sich dem Grundsatz Kläns (pacta sunt servanda) untergeordnet und darauf verzichtet, gemäß seiner eigenen „neuen“, an der Heiligen Schrift orientierten Erkenntnis eine andere kirchliche Praxis einzufordern – jenseits der geltenden Kirchenordnungen – so hätte Reformation nicht stattgefunden. Die Erneuerung der Kirche durch Martin Luthers Erkenntnis der Rechtfertigungslehre ist nur durch Änderung oder gar Aufhebung von kirchlichen Rechtsordnungen möglich gewesen. Die Kirche wird durch Gottes Wort geschaffen, geändert und erneuert und nicht durch „pacta sunt servanda“.
- 3.8 Die Theologische Wissenschaft in Lehre und Praxis ist nach Luther weitergegangen und hat dazu geführt, dass sich exegetische Meinungen, systematische Einsichten bis hin zu praktisch-theologischen Fragen bis heute geändert haben. An diesen Veränderungen haben Theologinnen und Theologen der SELK Anteil, profitieren davon, gehen aber auch kritisch damit um.
- 3.9 Entsprechend ist aufrecht zu erhalten, dass es nicht möglich ist, „Lehre abschließend und ein für alle Mal zu fixieren“[10], wie Klän behauptet, sondern Lehre muss neuen Einsichten gemäß weiterentwickelt werden.
- 3.10 Das unsinnige Argument (vgl.1.1), dass eine Ordnungsänderung das Bisherige ins Unrecht setzt und entsprechend nicht sein darf, ist abzuweisen, weil Kirche, weil Erkenntnisse, weil Menschen sich wandeln und neue Erkenntnisse und Bewertungen Raum greifen und entsprechend natürlich ein Bemühen um Ordnungsänderung gestattet – geradezu gefordert ist. (Dass neue Ordnungen als schriftgemäß zu erweisen sind, versteht sich von selbst.) Aber es kann niemals Argument sein, dass eine Ordnung nicht geändert werden kann, weil sie dann das davor Gültige ins Unrecht setzt. Außerdem würde das bedeuten, dass Menschen nie irren können, welche die Ordnungen einmal verfasst haben.
- 3.11 Im Übrigen wurden in der SELK und ihren Vorläuferkirchen gerade in der Frage „Rolle der Frauen“ permanent Ordnungen verändert, die zuvor als schriftgemäß angesehen wurden.
- Widerspruch 2: Klän argumentiert ausschließlich ordnungstheoretisch und damit einseitig. Bei der Bewertung von kirchlichen Ordnungen ist es geboten, biblische Erkenntnisse einzubeziehen, die aufweisen, wie Gott handelt und wie Gott auf menschliches Verhalten reagiert.
- 4.1 Beispiel Ehescheidung: Gott hat es geordnet, dass die menschlich grundlegende Institution Ehe lebenslang gilt (also eigentlich: pacta sunt servanda). Dennoch gibt es den Fall, dass eine Ehe nicht gelingt und eine Trennung angesagt ist – gegen die gute Ordnung Gottes. Bereits im mosaischen Gesetz[11] ist dafür eine Abweichung von der Ordnung gestattet. Diese Regelung relativiert den Grundsatz „Pacta sunt servanda“! Im Ordnungswerk der SELK ist im Übrigen diesem Beispiel längst Rechnung getragen.
- 4.2 Beispiel Gottes Barmherzigkeit: Es gibt zahlreiche Beispiele, mit denen belegt ist, dass Gott lebendig und barmherzig ist und dass er sich bewegt und seinen Plan ändert und z.B. strafende Konsequenzen nicht durchsetzt[12]. Gott ist wie ein barmherziger nachsichtiger Vater[13]. Dieses Gottesbild relativiert die eiserne Durchsetzung des Grundsatzes „pacta sunt servanda“ und dringt auf eine weiche Betrachtung von als richtig erkannten Ordnungen.
- Widerspruch 3: Im Gegensatz zu Werner Klän, der den Atlas Frauenordination stark kritisiert, wurde er sowohl von dem 13. APK (Hofgeismar 2022) als auch von der 15. Kirchensynode (Gotha 2023) begrüßt, zustimmend zur Kenntnis genommen und daraufhin den Gemeinden zur breiten Beratung vorgelegt.
- 5.1. Es wurde von den Gremien erkannt, dass der Atlas in seiner Konzeption einen Weg aus der allgemeinen Ratlosigkeit weist und mit den Szenarien (besonders Nr. 4)[14] ein Modell differenzierter Einheit bietet.
- 5.2. Klän übt scharfe Kritik daran, dass der Atlas die Lehrmeinungen pro und contra Frauenordination gleichberechtigt nebeneinander stellt. Wenn anerkannt ist, dass beide Lehrmeinungen in der SELK vorhanden sind und beide sich aus der Heiligen Schrift begründen, gibt es kein Argument, die Lehrmeinungen nicht gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, ungeachtet dessen, dass die Lehrmeinung gegen Frauenordination die derzeit gültige Lehrentscheidung stützt. Aber diese Gültigkeit qualifiziert die Lehrmeinung gegen die Frauenordination nicht als „bessere“ Lehrmeinung.
Soltau / Bad Bevensen 06. September 2024
[1] in: Lutherische Beiträge Nr. 3 / 2024, S. 139-160, auch online unter: https://www.lutherischebeitraege.de/pdf/2024-3_Klaen.pdf. Dem Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, den Prof. em. Dr. Werner Klän am 23.-24. Januar 2024 vor dem Pfarrkonvent des Kirchenbezirks Berlin-Brandenburg gehalten hat. Die ganze Überschrift lautet: „‚Pacta sunt servanda‘- Über kirchliche Ordnungen und ihre Verbindlichkeit. Kirchliches Normengefüge.“
[2] A.a.O. S.159
[3] A.a.O. S.142f
[4] Der Atlas ist auch online einsehbar unter https://www.selk.de/download/Atlas-Frauenordination-SELK.pdf
[5] Lutherische Beiträge S. 155, 157 u.158
[6] A.a.O. S. 158
[7] A.a.O. S.150
[8] A.a.O. S.160
[9] A.a.O. S.142
[10] A.a.O. S.145
[11] 5. Mose 24,1
[12] Klassisches Beispiel ist die Fürbitte des Mose (2.Mose 32,7ff), die Gottes Strafhandeln verhindert
[13] Sicherlich noch bekannter ist die Beschreibung Gottes in dem Verhalten des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn, Luk 15,11ff
[14] Atlas Frauenordination S. 24

